Maastricht-Vertrag. Titel V

 

Der Maastricht-Vertrag

Titel V

Bestimmungen über die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Art. J [GASP] Hiermit wird eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt,
die durch die nachstehenden Bestimmungen geregelt wird.

Art. J.1 [Ziele der GASP; Handlungsformen; Kohärenz] (1) Die Union und ihre
Mitgliedstaaten erarbeiten und verwirklichen eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
nach Maßgabe dieses Titels, die sich auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt.

(2) Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat zum Ziel – die Wahrung der gemeinsamen

Interessen und der Unabhängigkeit der Union;

– die Stärkung der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten in allen ihren Formen;

– die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend
den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen sowie den Prinzipien der Schlußakte von
Helsinki und den Zielen der Charta von Paris;

– die Förderung der internationalen Zusammenarbeit;

– die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten.

(3) Die Union verfolgt diese Ziele

– gemäß Artikel J.2 durch Einrichtung einer regelmäßigen Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten bei der Führung ihrer Politik;

– gemäß Artikel J.3 durch stufenweise Durchführung gemeinsamer Aktionen in den Bereichen,
in denen wichtige gemeinsame Interessen der Mitgliedstaaten bestehen.

(4) Die Mitgliedstaaten unterstützen die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv
und vorbehaltlos im Geist der Loyalität und gegenseitigen Solidarität. Sie enthalten sich
jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als
kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte. Der Rat trägt für die
Einhaltung dieser Grundsätze Sorge.

Art. J.2 [Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten; gemeinsame Standpunkte] (1) Zu jeder
außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung findet im Rat eine
gegenseitige Unterrichtung und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten statt, damit
gewährleistet ist, daß ihr vereinter Einfluß durch konvergierendes Handeln möglichst
wirksam zum Tragen kommt.

(2) In allen Fällen, in denen er dies als erforderlich erachtet, legt der Rat einen
gemeinsamen Standpunkt fest.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, daß ihre einzelstaatliche Politik mit den gemeinsamen
Standpunkten im Einklang steht.

(3) Die Mitgliedstaaten koordinieren ihr Handeln in internationalen Organisationen
und auf internationalen Konferenzen. Sie treten dort für die gemeinsamen Standpunkte ein.


In den internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen, bei denen nicht alle Mitgliedstaaten vertreten sind, setzen sich diejenigen, die dort vertreten sind, für die gemeinsamen Standpunkte ein.

Art. J.3 [Gemeinsame Aktion; Verfahren] Für die Annahme einer gemeinsamen Aktion in den Bereichen der AuBen- und Sicherheitspolitik gilt folgendes Verfahren:

1. Der Rat beschließt auf der Grundlage allgemeiner Leitlinien des Europäischen Rates, daß eine Angelegenheit Gegenstand einer gemeinsamen Aktion wird.

Beschließt der Rat grundsätzlich eine gemeinsame Aktion, so legt erden genauen Umfang der Aktion, die allgemeinen und besonderen Ziele, welche die Union bei dieser Aktion verfolgt, sowie die Mittel, Verfahren und Bedingungen sowie erforderlichenfalls den Zeitraum für ihre Durchführung fest.

2. Bei der Annahme einer gemeinsamen Aktion und in jedem Stadium ihres Verlaufs bestimmt der Rat die Fragen, über die mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden ist.

Bei den Beschlüssen des Rates, für die nach Unterabsatz 1 eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, werden die Stimmen der Mitglieder nach Artikel 148 Absatz 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewogen; Beschlüsse kommen mit einer Mindeststimmenzahl von zweiundsechzig Stimmen zustande, welche die Zustimmung von mindestens zehn Mitgliedern umfassen.

3. Tritt eine Änderung der Umstände mit erheblichen Auswirkungen auf eine Angelegenheit ein, die Gegenstand einer gemeinsamen Aktion ist, so überprüft der Rat die Grundsätze und Ziele dieser Aktion und trifft die erforderlichen Entscheidungen. Solange der Rat keinen Beschluß gefaßt hat, bleibt die gemeinsame Aktion bestehen.

4. Die gemeinsamen Aktionen sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend.

5. Jede einzelstaatliche Stellungnahme oder Maßnahme, die im Rahmen einer gemeinsamen Aktion geplant ist, wird so rechtzeitig mitgeteilt, daß erforderlichenfalls eine vorherige Abstimmung im Rat stattfinden kann. Die Pflicht zur vorherigen Unterrichtung gilt nicht für Maßnahmen, die eine bloße praktische Umsetzung der Entscheidungen des Rates auf einzelstaatlicher Ebene darstellen.

6. Bei zwingender Notwendigkeit aufgrund der Entwicklung der Lage und mangels einer Entscheidung des Rates können die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der allgemeinen Ziele der gemeinsamen Aktion die erforderlichen Sofortmaßnahmen ergreifen. Der betreffende Mitgliedstaat unterrichtet den Rat sofort über die von ihm getroffenen Maßnahmen.

7. Ein Mitgliedstaat befaßt den Rat, wenn sich bei der Durchführung einer gemeinsamen Aktion größere Schwierigkeiten ergeben; der Rat berät darüber und sucht nach angemessenen Lösungen. Diese dürfen nicht im Widerspruch zu den Zielen der gemeinsamen Aktion stehen oder ihrer Wirksamkeit schaden.

Art. J.4 [Fragen der Sicherheit; gemeinsame Verteidigungspolitik; Rolle der WEU; Revision] (1 ) Die Gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik umfaßt sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.

(2) Die Union ersucht die Westeuropäische Union (WEU), die integraler Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union ist, die Entscheidungen und Aktionen der Union, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen. Der Rat trifft im Einvernehmen mit den Organen der WEU die erforderlichen praktischen Regelungen.

(3) Die Fragen, die verteidigungspolitische Bezüge haben und die nach diesem Artikel behandelt werden, unterliegen nicht den Verfahren des Artikels J.3.

(4) Die Politik der Union nach diesem Artikel berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten aus dem Nordatlantikvertrag und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

(5) Dieser Artikel steht der Entwicklung einer engeren Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten auf zweiseitiger Ebene sowie im Rahmen der WEU und der Atlantischen Allianz nicht entgegen, soweit sie der nach diesem Titel vorgesehenen Zusammenarbeit nicht zuwiderläuft und diese nicht behindert.

(6) Zur Förderung der Ziele dieses Vertrags und im Hinblick auf den Termin 1998 im Zusammenhang mit Artikel Xll des Brüsseler Vertrags in seiner geänderten Fassung kann dieser Artikel nach Artikel N Absatz 2 auf der Grundlage eines dem Europäischen Rat 1996 vom Rat vorzulegenden Berichts, der eine Bewertung der bis dahin erzielten Fortschritte und gesammelten Erfahrungen enthalten wird, revidiert werden

Art. J.5 [Aufgaben des Vorsitzes; Vertretung nach außen; Troika] (1) Der Vorsitz vertritt die Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

(2) DerVorsitzistfürdieDurchführungdergemeinsamenAktionen verantwortlich; daher wird in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen der Standpunkt der Union grundsätzlich vom Vorsitz dargelegt.

(3) Bei den Aufgaben gemäß den Absätzen 1 und 2 wird der Vorsitz gegebenenfalls von dem Mitgliedstaat, der den vorhergehenden Vorsitz innehatte, und dem Mitgliedstaat, der den nachfolgenden Vorsitz wahrnimmt, unterstützt. Die Kommission wird an diesen Aufgaben in vollem Umfang beteiligt.

(4) Unbeschadet des Artikels J.2 Absatz 3 und des Artikels J.3 Ziffer4 unterrichten die Mitgliedstaaten, die in internationalen Organisationen oder auf internationalen Konferenzen vertreten sind, die dort nicht vertretenen Mitgliedstaaten laufend über alle Fragen von gemeinsamem Interesse.

Die Mitgliedstaaten, die auch Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sind, werden sich abstimmen und die übrigen Mitgliedstaaten in vollem Umfang unterrichten. Die Mitgliedstaaten, die ständige Mitglieder des Sicherheitsrats sind, werden sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortlichkeiten aufgrund der Charta der Vereinten Nationen für die Standpunkte und Interessen der Union einsetzen.

Art. J.6 [Zusammenarbeit der diplomatischen und konsularischen Vertretungen] Die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten und die Delegationen der Kommission in dritten Ländern und auf internationalen Konferenzen sowie ihre Vertretungen bei internationalen Organisationen stimmen sich ab, um die Einhaltung und Umsetzung der vom Rat festgelegten gemeinsamen Standpunkte und gemeinsamen Aktionen zu gewährleisten.

Sie intensivieren ihre Zusammenarbeit durch Informationsaustausch, gemeinsame Bewertungen und Beteiligung an der Durchführung des Artikels 8c des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

Art. J.7 [Beteiligung des Parlaments] Der Vorsitz hört das Europäische Parlament zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und achtet darauf, daß die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden. Das Europäische Parlament wird vom Vorsitz und von der Kommission regelmäßig über die EntwicklungderAuBen-undsicherheitspolitikderunionunterrichtet.

Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat richten. Einmal jährlich führt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Art. J.8 [Europäischer Rat; Ministerrat; Politisches Komitee]

(1) Der Europäische Rat bestimmt die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

(2) Der Rat trifft die für die Festlegung und Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erforderlichen Entscheidungen auf der Grundlage der vom Europäischen Rat festgelegten allgemeinen Leitlinien. Er trägt für ein einheitliches, kohärentes und wirksames Vorgehen der Union Sorge.

Außer in Verfahrensfragen und außer im Fall des Artikels J.3 Ziffer 2 beschließt der Rat einstimmig.

(3) Jeder Mitgliedstaat oder die Kommission kann den Rat mit einer Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik befassen und ihm Vorschläge unterbreiten.

(4) In den Fällen, in denen eine rasche Entscheidung notwendig ist, beruft der Vorsitz von sich aus oder auf Antrag der Kommission oder eines Mitgliedstaats innerhalb von achtundvierzig Stunden, bei absoluter Notwendigkeit in kürzerer Zeit, eine außerordentliche Tagung des Rates ein.

(5) Unbeschadet des Artikels 151 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verfolgt ein Politisches Komitee, das sich aus den Politischen Direktoren zusammensetzt, die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und trägt auf Ersuchen des Rates oder von sich aus durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der Politiken bei. Ferner überwacht es die Durchführung vereinbarter Politiken dies gilt unbeschadet der Zuständigkeiten des Vorsitzes und der Kommission.

Art. J.9 [Beteiligung der Kommissionl Die Kommission wird in vollem Umfang an den Arbeiten im
Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik beteiligt.

Art. J.10 [Folgekonferenz] BeieineretwaigenRevisiondersicherheitspolitischen Bestimmungen
nach Artikel J.4 prüft die dafür einberufene Konferenz auch, ob weitere Änderungen der Bestimmungen
über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erforderlich sind.

Art. J.11 [Institutionelle Bestimmungen des EG-Vertrags; Finanzierung der GASP]
(1) Die Artikel 137, 138, 139 bis 142, 146, 147, 150 bis 153, 157 bis 163 und 217
des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft finden auf die Bestimmungen
über die in diesem Titel genannten Bereiche Anwendung.

(2) Die Verwaltungsausgaben, die den Organen aus den Bestimmungen
über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entstehen, gehen zu
Lasten des Haushalts der Europäischen Gemeinschaften.

Der Rat kann ferner

– entweder einstimmig beschließen, daß die operativen Ausgaben im Zusammenhang mit der Durchführung
der genannten Bestimmungen zu Lasten des Haushalts der Europäischen Gemeinschaften gehen; in
diesem Fall findet das im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorgesehene Haushaltsverfahren
Anwendung;

– oder feststellen, daß derartige Ausgaben, gegebenenfalls nach einem noch festzulegenden Schlüssel, zu
Lasten der Mitgliedstaaten gehen.